Die letzte Momentaufnahme eines Weinbergs, der vor uns geboren wurde
Es gibt Weine, die aus einer Entscheidung entstehen, andere aus einer Notwendigkeit. Il Guerrino 2022 hingegen entstand in einem einzigen Augenblick. Aus einem Gedanken, der plötzlich erscheint – so wie wenn man den Blick hebt und erkennt, dass man diese Landschaft nie wieder ganz genauso sehen wird. Ein Wein, den man nicht planen konnte: Er ist einfach geschehen. Und wenn so etwas geschieht, sollte man aufmerksam werden.
Bevor er ein Wein war, war Il Guerrino ein Ort. Ein kleines Gut auf einem Hügelrücken, der nach Süden in die warmen, sonnenverwöhnten „solatii“ abfällt, während er auf der anderen Seite wie von einer natürlichen Terrasse hinüber nach Montefioralle blickt. Ein Platz, der wie geschaffen für Sangiovese wirkt: Wind, Licht, Neigung und der richtige Schatten zur richtigen Zeit.
Dort lagen zwei kleine Weinberge, zusammen weniger als ein Hektar. Wir pachteten sie vor über zehn Jahren von der Familie Taddei/Loretelli, die uns stolz erzählte, dass ihr eigener Chianti Classico „Il Guerrino“ einst genau aus diesen Trauben entstand. Die Reben wurden Ende der 1930er-Jahre gepflanzt – wahrscheinlich älter als Fernando selbst – ein Gewirr aus alten Stöcken, verdrehten Pflanzen und Reihen, die so eng waren, dass kein Traktor, nicht einmal in der Fantasie, hindurchgepasst hätte.

(Der Weinberg von Il Guerrino mit Montefioralle im Hintergrund)
Doch dieser Sangiovese sprach. Wir verstanden das sofort. Wir verwendeten ihn von Anfang an für unsere Riserva: Er brachte Tiefe, Charakter und jene leichte Strenge, die einen Wein nicht unbedingt beim ersten Schluck interessant macht – vielleicht erst beim dritten oder vierten – aber dann ist man enttäuscht, dass die Flasche schon leer ist. Es war lebendige, kostbare Materie.
Doch jede Entscheidung hat ihren Preis. Diese Reben forderten alles und gaben immer weniger zurück. Lächerliche Erträge: 10 Doppelzentner… dann 8… schließlich nur noch 6 im Jahr 2021. Und alles wurde von Hand gemacht: Behandlungen, Schnitt, Lese. Jede Traube war ein kleiner Sieg. Und irgendwann, wie es oft geschieht, holte die Realität die Romantik ein: Diese Pflanzen hatten das Ende ihres Lebenszyklus erreicht. Gemeinsam mit den Eigentümern entschieden wir, dass es Zeit war, sie zu roden und neu zu bepflanzen und dem Wald, der sich langsam über die Grenzen des Weinbergs geschoben hatte, wieder ein Stück Land abzunehmen.
2022 sollte somit die letzte Lese dieses über achtzigjährigen Weinbergs werden.
An jenem Morgen, als wir mit dem Team Richtung Il Guerrino aufstiegen, traf ich Valerio – den Vater von Elisabetta, unserer agronomischen und önologischen Beraterin. Ein Mann, der dieses Land so gut kennt, dass er seine Stimmungen lesen und erzählen kann. Er kam gerade von der Jagd zurück, blieb einen Moment stehen, blickte auf die Reben und sagte nur:
„Es ist schade, sie zu roden. Ich verstehe, warum ihr es tun müsst, aber diese Biodiversität hier… das ist wirklich etwas Besonderes.“
Diese Worte trafen mich so, wie es nur einfache Wahrheiten können. Eine Sekunde später stand die Entscheidung fest: Die letzte Lese von Il Guerrino würde nicht in die Riserva wandern. Sie würde ihren eigenen Raum, ihre eigene Stimme, ihr eigenes flüssiges Gedächtnis bekommen.

(Weinlese 2022 bei Il Guerrino)
Knapp fünf Doppelzentner Trauben. Ein kleiner Gärtank. Eine separate Vinifikation.
Ein einziges Barrique.
Eine letzte Momentaufnahme.
Das Ergebnis ist Il Guerrino 2022 — ein Chianti Classico in nur 300 Flaschen, der letzte Atemzug eines Weinbergs, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, geformt vom Tramontana-Wind und achtzig Jahre lang über Montefioralle gewacht hat.
Dies ist kein Wein, den man zu sehr erklären sollte. Es ist ein Wein, den man hören muss.
Und wir haben ihn genau so belassen: ehrlich, unverfälscht, unwiederholbar.
Eine limitierte Edition, exklusiv für die Mitglieder unseres Wine Clubs: ein Stück landwirtschaftlicher Geschichte, ein Abschied und ein Neubeginn zugleich.
Denn manche Weinberge verschwinden nicht wirklich, wenn man sie rodet. Sie leben in den Flaschen weiter, die sie uns hinterlassen.
Und Il Guerrino 2022 ist sein letzter, wunderbarer Gruß.




